kruzifix-beschluss
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+ | ====== Kruzifix-Beschluss ====== | ||
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+ | FIXME Rechtliche Bedeutung erklären FIXME | ||
+ | ===== Volltext ===== | ||
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+ | ==== BVerfGE 93, 1 - Kruzifix ==== | ||
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+ | 1. Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, | ||
+ | 2. § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern ist mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig. | ||
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+ | ==== Beschluß des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 ==== | ||
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+ | -- 1 BvR 1087/91 -- | ||
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+ | in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. des Herrn S..., 2. der Frau S..., 3. der Minderjährigen S..., 4. des Minderjährigen S..., 5. des Minderjährigen S..., die Beschwerdeführer zu 3. bis 5. vertreten durch die Beschwerdeführer zu 1. und 2. Bevollmächtigter: | ||
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+ | ==== Entscheidungsformel: | ||
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+ | 1. § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (Volksschulordnung - VSO) vom 21. Juni 1983 (GVBl. S. 597) ist mit Artikel 4 Absatz 1((Art. 4 I: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.)) des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig. | ||
+ | 2. Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juni 1991 - 7 CE 91.1014 - und der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 1. März 1991 - RO 1 E 91.167 - verletzen die Beschwerdeführer zu 1) und 2) in ihren Grundrechten aus Artikel 4 Absatz 1((Art. 4 I: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.)) in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 2 Satz 1((Art. 6 II: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.)) und die Beschwerdeführer zu 3) bis 5) in ihren Grundrechten aus Artikel 4 Absatz 1((Art. 4 I: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.)) des Grundgesetzes. Der Beschluß der Verwaltungsgerichtshofs verletzt die Beschwerdeführer außerdem in ihren Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4((Art. 19 IV: Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.)) des Grundgesetzes. Die Einscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. | ||
+ | 3. Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. | ||
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+ | ==== Gründe: ==== | ||
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+ | === A. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anbringung von Kreuzen oder Kruzifixen in Schulräumen. === | ||
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+ | == I. == | ||
+ | 1. Nach § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (Volksschulordnung - VSO) vom 21. Juni 1983 (GVBl. S. 597) ist in den öffentlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen. Die Volksschulordnung ist eine vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus erlassene Rechtsverordnung, | ||
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+ | 2. Die Beschwerdeführer zu 3) bis 5) sind die minderjährigen schulpflichtigen Kinder der Beschwerdeführer zu 1) und 2). Letztere sind Anhänger der anthroposophischen Weltanschauung nach der Lehre Rudolf Steiners und erziehen ihre Kinder in diesem Sinne. Seit der Einschulung der ältesten Tochter, der Beschwerdeführerin zu 3), wenden sie sich dagegen, daß in den von ihren Kindern besuchten Schulräumen zunächst Kruzifixe und später teilweise Kreuze ohne Korpus angebracht worden sind. Sie machen geltend, daß durch diese Symbole, insbesondere durch die Darstellung eines " | ||
+ | Bei der Einschulung der Beschwerdeführerin zu 3) im Spätsommer 1986 war in deren Klassenzimmer ein Kruzifix mit einer Gesamthöhe von 80 cm und einer 60 cm hohen Darstellung des Korpus unmittelbar im Sichtfeld der Tafel angebracht. Die Beschwerdeführer zu 1) und 2) forderten die Entfernung dieses Kruzifixes und lehnten es ab, die Beschwerdeführerin zu 3) zur Schule zu schicken, solange sie dem Anblick ausgesetzt sei. Der Konflikt wurde zunächst dadurch beigelegt, daß das Kruzifix gegen ein kleineres über der Tür angebrachtes Kreuz ohne Korpus ausgewechselt wurde. Die Auseinandersetzungen zwischen den Beschwerdeführern zu 1) und 2) und der Schulverwaltung flammten jedoch bei der Einschulung ihrer weiteren Kinder sowie beim Klassen- und schließlich beim Schulwechsel der Beschwerdeführerin zu 3) wieder auf, weil wiederum in den Schulräumen Kruzifixe angebracht waren. Wiederholt erreichten die Beschwerdeführer zu 1) und 2) dadurch, daß sie ihre Kinder, teilweise über längere Zeiträume, nicht zum Unterricht schickten, erneut die Kompromißlösung (kleines Kreuz ohne Korpus seitlich über der Tür) für die Klassenzimmer, | ||
+ | Zeitweilig besuchten die drei Kinder eine Waldorfschule; | ||
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+ | 3. Im Februar 1991 erhoben die Beschwerdeführer zu 1) und 2) im eigenen Namen und im Namen ihrer Kinder vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen den Freistaat Bayern mit dem Ziel, daß aus sämtlichen von ihren Kindern im Rahmen ihres Schulbesuchs aufgesuchten und noch aufzusuchenden Räumen in öffentlichen Schulen die Kreuze entfernt würden. Zugleich beantragten sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung bis zum Abschluß des Klageverfahrens auf Entfernung von Kruzifixen. | ||
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+ | a) Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag ab. Durch das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen würden weder das Erziehungsrecht der Eltern noch Grundrechte der Kinder verletzt. § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO bestimme nicht, daß das Kreuz als Unterrichtsmittel einzusetzen und zum Gegenstand des allgemeinen Schulunterrichts zu machen sei. Es diene lediglich der verfassungsrechtlich unbedenklichen Unterstützung der Eltern bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder. Der verfassungsrechtlich zulässige Rahmen religiös-weltanschaulicher Bezüge im Schulwesen werde nicht überschritten. Das Prinzip der Nichtidentifikation beanspruche im Schulwesen - anders als im rein weltlichen Bereich - nicht in gleicher Weise Beachtung, weil im Erziehungsbereich religiös-weltanschauliche Vorstellungen von jeher von Bedeutung gewesen seien. Das Spannungsverhältnis zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit müsse unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes nach dem Prinzip der Konkordanz gelöst werden. Danach könnten die Beschwerdeführer nicht verlangen, daß ihrer negativen Bekenntnisfreiheit der absolute Vorrang gegenüber der positiven Bekenntnisfreiheit derjenigen Schüler eingeräumt werde, die in einem religiösen Bekenntnis erzogen würden und sich dazu bekennen wollten. Vielmehr könne von den Beschwerdeführern Toleranz und Achtung der religiösen Überzeugungen anderer erwartet werden, wenn sie deren Religionsausübung in der Schule begegneten (zu den Einzelheiten vgl. VG Regensburg, BayVBl. 1991, S. 345). | ||
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+ | b) Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof zurück. Es fehle bereits an einem Anordnungsgrund. Die Vorwegnahme des mit dem Hauptsacheverfahren verfolgten Ziels sei nicht zulässig, weil den Beschwerdeführern bei einem Zuwarten keine unzumutbaren, | ||
+ | Darüber hinaus sei auch ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht; mit einem Erfolg im Hauptsacheverfahren könne nicht gerechnet werden. Zwar sei der Schutzbereich der Glaubensfreiheit berührt; diese treffe hier aber auf ihre Schranken, die sich aus dem staatlichen Schulorganisationsrecht und den Grundrechten derjenigen Schüler und Eltern ergäben, die eine entgegengesetzte Auffassung verträten. Mit der Darstellung des Kreuzes als Sinnbild des Leidens und der Herrschaft Christi würden die Beschwerdeführer zwar mit einem religiösen Weltbild konfrontiert. Das Kreuz sei aber nicht Ausdruck eines Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben, sondern wesentlicher Gegenstand der allgemein christlich- abendländischen Tradition und Gemeingut dieses Kulturkreises. Einem Nichtchristen oder sonst weltanschaulich anders Gesinnten sei es unter dem auch für ihn geltenden Gebot der Toleranz zumutbar, das Kreuz in der gebotenen Achtung vor der Weltanschauung anderer hinzunehmen. Das bloße Vorhandensein einer Kreuzesdarstellung verlange weder eine Identifikation mit den dadurch verkörperten Ideen oder Glaubensvorstellungen noch ein irgendwie sonst darauf gerichtetes aktives Verhalten. Die Schule werde weder missionarisch tätig noch werde ihre Offenheit für andere religiöse und weltanschauliche Werte beeinträchtigt. Die Schule präge die Kinder durch den Unterricht, nicht durch bildliche Darstellungen wie das überkommene Kreuzessymbol. Mit diesem Symbol werde kein Absolutheitsanspruch erhoben und auch nicht für eine bestimmte christliche Konfession geworben; ebensowenig würden die Beschwerdeführer diskriminiert. Das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen sei auch nicht geeignet, die von der Schule unabhängige elterliche Erziehung zu beeinträchtigen. Im vorliegenden Fall komme hinzu, daß die Beschwerdeführer zu 1) und 2) die Gestalt Jesu Christi als solche nicht ablehnten, sondern sich nur gegen die nach ihrer Meinung zu einseitige und schädliche Betonung des leidenden Christus wendeten. Auch deswegen sei ihre Beeinträchtigung verhältnismäßig geringfügig; | ||
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+ | c) Das Hauptsacheverfahren ist, nachdem das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen hat, in der Berufungsinstanz anhängig. | ||
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+ | == II. == | ||
+ | Die Verfassungsbeschwerde richtet sich unmittelbar gegen die im Eilverfahren ergangenen Beschlüsse, | ||
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+ | 1. Die Ausstattung von Schulräumen mit Kreuzen und Kruzifixen verstoße gegen die Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität. Das Kreuz sei das markante Symbol und Repräsentationsmerkmal der Religion des Christentums; | ||
+ | Soweit sich aus dem Schulgebetsurteil des Bundesverfassungsgerichtes etwas anderes ergebe, könne dem nicht beigetreten werden. Im übrigen sei nach jüngeren Entscheidungen der Fachgerichte die religiöse Neutralitätspflicht der Schule bereits verletzt, wenn ein einzelner Lehrer während der Unterrichtszeit Kleidungsstücke trage, die einen eindeutigen Rückschluß auf seine religiöse Überzeugung gestatteten (Verbot des Tragens von " | ||
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+ | 2. Die Grundrechte der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 4 Abs. 1 GG seien verletzt, weil diese ihre Kinder einem ihren Erziehungsvorstellungen widersprechenden religiösen oder weltanschaulichen Einfluß aussetzen müßten. | ||
+ | 3. Art. 2 Abs. 1 GG sei verletzt, weil sie durch staatlichen Zwang mit einem Nachteil belastet würden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet sei. | ||
+ | 4. Der Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes verletze sie ferner in ihrem in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes, | ||
+ | Im übrigen verstoße das Anbringen von Kreuzen in öffentlichen Schulen auch gegen die in Art. 9 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) garantierte Religionsfreiheit sowie gegen Art. 2 Satz 2 des Zusatzprotokolls zur Konvention vom 20. März 1952. Insofern verweisen die Beschwerdeführer auf ein Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 26. September 1990 (EuGRZ 1991, S. 89), in dem dieses Gericht einen Verstoß gegen die Konventionsnormen und die inhaltsgleichen Bestimmungen der Schweizerischen Bundesverfassung bejaht. | ||
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+ | == III. == | ||
+ | 1. Der Bayerische Ministerpräsident, | ||
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+ | 2. Zum Standpunkt der katholischen Kirche hat das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz eine Stellungnahme des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands vorgelegt. Darin wird ausgeführt, | ||
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+ | 3. Der Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern verweist auf eine gutachtliche Stellungnahme des kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland. Darin wird zusammenfassend ausgeführt, | ||
+ | 4. Darüber hinaus haben sich die Humanistische Union e.V., der Bund für Geistesfreiheit Augsburg und die Freireligiöse Landesgemeinschaft Hessen zum vorliegenden Verfahren geäußert und unter anderem gutachtliche Stellungnahmen verschiedener Autoren vorgelegt, die die Auffassung der Beschwerdeführer unterstützen. | ||
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+ | === B. === | ||
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+ | Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. | ||
+ | Die Beschwerdeführer haben den Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Mit dem Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs liegt eine das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschließende letztinstanzliche Entscheidung vor. Allerdings kann der Grundsatz der Subsidiarität in solchen Fällen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde entgegenstehen, | ||
+ | Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes geltend machen, erheben sie eine speziell das Eilverfahren betreffende Grundrechtsrüge. Hinsichtlich der anderen (materiellrechtlichen) Grundrechtsrügen bedarf es keiner weiteren tatsächlichen oder einfachrechtlichen Klärung. Insbesondere haben sich die Fachgerichte in den angegriffenen Entscheidungen umfassend mit den maßgeblichen Rechtsfragen auseinandergesetzt. Vom Hauptsacheverfahren ist kein zusätzlicher Ertrag zu erwarten. Auch ist es den Beschwerdeführern angesichts der fortschreitenden Zeit und des Fortgangs der Schulausbildung nicht zumutbar, auf den Abschluß des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden. | ||
+ | Für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kommt es nicht darauf an, ob die beschwerdeführenden Kinder noch die Volksschule besuchen (vgl. BVerfGE 41, 29 [43]). | ||
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+ | === C. === | ||
+ | Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Soweit der Verwaltungsgerichtshof einen Anordnungsgrund verneint hat, verstößt seine Entscheidung gegen Art. 19 Abs. 4 GG (I.). Die Verneinung eines Anordnungsanspruchs ist mit Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar (II.). | ||
+ | == I. == | ||
+ | 1. Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet den Rechtsweg gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt. Gewährleistet wird nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 35, 263 [274]; 35, 382 [401 f.] m.w.N.). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, daß gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 [153]; 65, 1 [70]). Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz (vgl. BVerfGE 49, 220 [226]; 77, 275 [284]). So sind die Fachgerichte etwa bei der Auslegung und Anwendung des § 123 VwGO gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, | ||
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+ | 2. Diesen Anforderungen genügt der Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs nicht. Dieser verneint den für den Erlaß der begehrten einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund, | ||
+ | Mit dieser Begründung wird der Verwaltungsgerichtshof weder dem tatsächlichen Geschehensablauf noch der Bedeutung des Anliegens der Beschwerdeführer gerecht. Tatsächlich hatten die Beschwerdeführer seit der Einschulung ihres ältesten Kindes auf allen Ebenen der Schulverwaltung - von der örtlichen bis zur ministeriellen - ihr Begehren angebracht. Daß sie ursprünglich auf eine außergerichtliche Einigung hofften und dadurch Zeit verstrich, darf ihnen nicht zum Nachteil gereichen; ein solches zunächst auf Streitvermeidung ausgerichtetes Verhalten entspricht vielmehr dem einer vernünftigen Partei. Es kommt hinzu, daß die Beschwerdeführer einem Kompromiß zugestimmt hatten, der jedoch von der Schulverwaltung wiederholt bei Klassenzimmer- oder Schulwechseln der Kinder in Frage gestellt wurde. Ein endgültiges Zugeständnis in diesem Sinne hat ihnen die Schulverwaltung nicht gemacht. | ||
+ | Aus diesem Grunde wird auch die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, | ||
+ | Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Anordnungsgrund vorlag, hat der Verwaltungsgerichtshof ferner nicht hinreichend berücksichtigt, | ||
+ | == II. == | ||
+ | Die angegriffenen Entscheidungen verletzen ferner die Beschwerdeführer zu 1) und 2) in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und die Beschwerdeführer zu 3) bis 5) in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 GG. Sie beruhen auf § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO, der seinerseits mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig ist. | ||
+ | 1. Art. 4 Abs. 1 GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat darf ihm einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten. Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln (vgl. BVerfGE 32, 98 [106]). Insbesondere gewährleistet die Glaubensfreiheit die Teilnahme an den kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet. Dem entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt. Art. 4 Abs. 1 GG überläßt es dem Einzelnen zu entscheiden, | ||
+ | Art. 4 Abs. 1 GG beschränkt sich allerdings nicht darauf, dem Staat eine Einmischung in die Glaubensüberzeugungen, | ||
+ | Im Verein mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht garantiert, umfaßt Art. 4 Abs. 1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten (vgl. BVerfGE 41, 29 [44, 47 f.]). Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, | ||
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+ | 2. In dieses Grundrecht greifen § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO sowie die angegriffenen Entscheidungen, | ||
+ | a) § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO schreibt die Anbringung von Kreuzen in sämtlichen Klassenzimmern der bayerischen Volksschulen vor. Der Begriff des Kreuzes umfaßt nach der Auslegung durch die Gerichte des Ausgangsverfahrens Kreuze mit und ohne Korpus. In die Nachprüfung der Norm sind daher beide Bedeutungen einzubeziehen. Die Beschwerdeführer haben zwar in ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz dem Wortlaut nach nur die Entfernung von Kruzifixen begehrt. Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch ausdrücklich unterstellt, | ||
+ | Zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht führen Kreuze in Unterrichtsräumen dazu, daß die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, "unter dem Kreuz" zu lernen. Dadurch unterscheidet sich die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern von der im Alltagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen. Zum einen geht diese nicht vom Staat aus, sondern ist eine Folge der Verbreitung unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen und Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft. Zum anderen besitzt sie nicht denselben Grad von Unausweichlichkeit. Zwar hat es der Einzelne nicht in der Hand, ob er im Straßenbild, | ||
+ | Nach Dauer und Intensität ist die Wirkung von Kreuzen in Unterrichtsräumen noch größer als diejenige von Kreuzen in Gerichtssälen. Schon in dem Zwang, entgegen den eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen einen Rechtsstreit unter dem Kreuz zu führen, hat das Bundesverfassungsgericht aber einen Eingriff in die Glaubensfreiheit eines jüdischen Prozeßbeteiligten gesehen, der darin eine Identifikation des Staates mit dem christlichen Glauben erblickte (vgl. BVerfGE 35, 366 [375]). | ||
+ | Die Unvermeidbarkeit der Begegnung mit dem Kreuz in Schulräumen wird auch nicht durch die in Art. 7 Abs. 4 GG zugelassene Errichtung privater Schulen beseitigt. Zum einen ist gerade die Errichtung privater Volksschulen in Art. 7 Abs. 5 GG an besonders strenge Voraussetzungen geknüpft. Zum anderen wird, da diese Schulen sich in aller Regel über Schulgeld finanzieren, | ||
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+ | b) **Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur.** | ||
+ | Zwar sind über die Jahrhunderte zahlreiche christliche Traditionen in die allgemeinen kulturellen Grundlagen der Gesellschaft eingegangen, | ||
+ | Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin. Es versinnbildlicht die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem (vgl. das Stichwort " | ||
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+ | c) Dem Kreuz kann auch die Einwirkung auf die Schüler nicht abgesprochen werden, wie das die angegriffenen Entscheidungen tun. | ||
+ | Zwar ist es richtig, daß mit der Anbringung des Kreuzes in Klassenzimmern kein Zwang zur Identifikation oder zu bestimmten Ehrbezeugungen und Verhaltensweisen einhergeht. Ebensowenig folgt daraus, daß der Sachunterricht in den profanen Fächern von dem Kreuz geprägt oder an den von ihm symbolisierten Glaubenswahrheiten und Verhaltensanforderungen ausgerichtet wird. Darin erschöpfen sich die Einwirkungsmöglichkeiten des Kreuzes aber nicht. Die schulische Erziehung dient nicht nur der Erlernung der grundlegenden Kulturtechniken und der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. Sie soll auch die emotionalen und affektiven Anlagen der Schüler zur Entfaltung bringen. Das Schulgeschehen ist darauf angelegt, ihre Persönlichkeitsentwicklung umfassend zu fördern und insbesondere auch das Sozialverhalten zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang gewinnt das Kreuz im Klassenzimmer seine Bedeutung. Es hat appellativen Charakter und weist die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus. Das geschieht überdies gegenüber Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind (vgl. BVerfGE 52, 223 [249]). | ||
+ | Auch die angegriffenen Entscheidungen stellen den appellativen Charakter des Kreuzes nicht völlig in Abrede. Zwar sprechen sie ihm gegenüber den andersdenkenden Schülern eine spezifisch christliche Bedeutung ab. Für die christlichen Schüler sehen sie in ihm aber einen wesentlichen Ausdruck von deren religiöser Überzeugung. Ähnlich meint der Bayerische Ministerpräsident, | ||
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+ | 3. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Das bedeutet aber nicht, daß es keinerlei Einschränkungen zugänglich wäre. Diese müssen sich jedoch aus der Verfassung selbst ergeben. Eine Errichtung von Schranken, die nicht bereits in der Verfassung angelegt sind, steht dem Gesetzgeber nicht zu. Verfassungsrechtliche Gründe, die den Eingriff zu rechtfertigen vermöchten, | ||
+ | a) Aus Art. 7 Abs. 1 GG ergibt sich eine solche Rechtfertigung nicht. | ||
+ | Allerdings erteilt Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat einen Erziehungsauftrag (vgl. BVerfGE 34, 165 [181]). Er hat nicht nur das Schulwesen zu organisieren und selbst Schulen zu errichten, sondern darf auch die Erziehungsziele und Ausbildungsgänge festlegen. Dabei ist er von den Eltern unabhängig (vgl. BVerfGE 34, 165 [182]; 47, 46 [71 f.]). Deswegen können nicht nur schulische und familiäre Erziehung in Konflikt geraten. Es ist vielmehr auch unvermeidbar, | ||
+ | Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern ist nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, daß nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (vgl. BVerfGE 28, 243 [260 f.]; 41, 29 [50]; 52, 223 [247, 251]). | ||
+ | Ein solcher Ausgleich verlangt vom Staat nicht, daß er bei der Erfüllung des von Art. 7 Abs. 1 GG erteilten Erziehungsauftrags auf religiös-weltanschauliche Bezüge völlig verzichtet. Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös- weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, | ||
+ | Allerdings ist es in einer pluralistischen Gesellschaft unmöglich, bei der Gestaltung der öffentlichen Pflichtschule allen Erziehungsvorstellungen voll Rechnung zu tragen. Insbesondere lassen sich die negative und die positive Seite der Religionsfreiheit nicht problemlos in ein und derselben staatlichen Institution verwirklichen. Daraus folgt, daß sich der Einzelne im Rahmen der Schule nicht uneingeschränkt auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen kann. | ||
+ | Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes zu lösen, obliegt dem Landesgesetzgeber, | ||
+ | Das Bundesverfassungsgericht hat daraus den Schluß gezogen, daß dem Landesgesetzgeber die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Volksschulen nicht schlechthin verboten ist, mögen auch Erziehungsberechtigte, | ||
+ | Die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern überschreitet die danach gezogene Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule. Wie bereits festgestellt, | ||
+ | b) Die Anbringung des Kreuzes rechtfertigt sich auch nicht aus der positiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens. Die positive Glaubensfreiheit kommt allen Eltern und Schülern gleichermaßen zu, nicht nur den christlichen. Der daraus entstehende Konflikt läßt sich nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen, denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten. Überdies verleiht Art. 4 Abs. 1 GG den Grundrechtsträgern nicht uneingeschränkt einen Anspruch darauf, ihre Glaubensüberzeugung im Rahmen staatlicher Institutionen zu betätigen. Soweit die Schule im Einklang mit der Verfassung dafür Raum läßt wie beim Religionsunterricht, | ||
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+ | === D. === | ||
+ | Danach ist die dem Streitfall zugrunde liegende Vorschrift des § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO mit den genannten Grundrechten unvereinbar und für nichtig zu erklären. Die angegriffenen Entscheidungen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens sind aufzuheben. Da das Hauptsacheverfahren inzwischen beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof anhängig ist, wird die Sache an ihn zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Anordnung der Kostenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. | ||
+ | Henschel, Seidl, Grimm, Söllner, Kühling, Seibert, Jaeger, Haas | ||
+ | |||
+ | Abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas zum Beschluß des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 - | ||
+ | Die Auffassung der Senatsmehrheit, | ||
+ | |||
+ | == I. == | ||
+ | |||
+ | 1. Nach Art. 7 Abs. 1 GG steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Die Errichtung und das Betreiben von Volksschulen ist, wie sich aus Art. 7 Abs. 5 GG ergibt, der die Zulassung privater Volksschulen an besonders strenge Voraussetzungen knüpft, grundsätzlich Sache des Staates selbst. Der Staat hat insoweit einen eigenen Erziehungsauftrag und damit auch die Befugnis, Erziehungsziele festzulegen (vgl. BVerfGE 52, 223 [236]). | ||
+ | Das Grundgesetz weist jedoch das Schulrecht ausschließlich dem Hoheitsbereich der Länder zu. Das Schulrecht ist in den Zuständigkeitskatalogen der Art. 73 ff. GG nicht aufgeführt. Der Bund hat also für diesen Gegenstand - im Gegensatz zur Verfassungsordnung der Weimarer Republik, die auf dem Gebiete des Schulwesens gemäß Art. 10 Nr. 2 WRV dem Reich das Recht zur Grundsatzgesetzgebung zuerkannte - keine Gesetzgebungsbefugnis (Art. 70 ff. GG) und keine Verwaltungshoheit (Art. 30 GG). Die Entstehungsgeschichte des Art. 7 GG zeigt, daß eine weitgehende Selbständigkeit der Länder in bezug auf die weltanschaulich-religiöse Ausprägung der öffentlichen Schulen beabsichtigt war. Hier setzte sich das föderalistische Prinzip durch. Anträge, die ein weitergehendes Elternrecht (" | ||
+ | 2. Die verfassungsrechtliche Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen muß danach von den Gegebenheiten des Freistaates Bayern ausgehen und darf nicht die Verhältnisse, | ||
+ | Die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 (BV) enthält in ihrem Abschnitt über Bildung und Schule folgende Bestimmung über die in allen Schulen zu verfolgenden Bildungsziele: | ||
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+ | < | ||
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+ | (1) ... | ||
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+ | (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, | ||
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+ | (3) - (4) ..."</ | ||
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+ | Während das Bildungsziel " | ||
+ | Für das Volksschulwesen sah Art. 135 BV ursprünglich Bekenntnis- oder Gemeinschaftsschulen mit einem Vorrang der Bekenntnisschule vor. Aufgrund der schulpolitischen Entwicklung (vgl. hierzu BVerfGE 41, 65 [79 ff.]) wurde diese Verfassungsbestimmung im Wege des Volksentscheids durch das Gesetz zur Änderung des Art. 135 der Verfassung des Freistaates Bayern vom 22. Juli 1968 (GVBl. S. 235) geändert. Sie lautet seitdem wie folgt: | ||
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+ | Die öffentlichen Volksschulen sind gemeinsame Schulen für alle volksschulpflichtigen Kinder. In ihnen werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen. Das Nähere bestimmt das Volksschulgesetz." | ||
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+ | In Art. 135 Satz 2 BV n.F. muß das Christentum nicht in einem konfessionellen Sinne verstanden werden. Die Grundsätze der christlichen Bekenntnisse im Sinne dieser Vorschrift umfassen vielmehr die Werte, die den christlichen Bekenntnissen gemeinsam sind, und die ethischen Normen, die daraus abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 41, 65 [84]). Es handelt sich um Werte und Normen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind. In Anwendung dieser Prinzipien sollen die Schüler zu den in Art. 131 Abs. 2 BV beschriebenen Bildungszielen hingeführt werden. Ein durch spezifisch christliche Glaubensinhalte geprägtes Erziehungsziel ist hingegen in der Bayerischen Verfassung nicht niedergelegt (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 84 f.). Die Bejahung des Christentums bezieht sich nicht auf die Glaubensinhalte, | ||
+ | Nach Maßgabe dieser Erwägungen bestehen gegen den auf Art. 135 Satz 2 BV beruhenden Schultyp der christlichen Gemeinschaftsschule keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 41, 65 [79 ff.]). | ||
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+ | 3. Den Bundesländern als den Trägern des Volksschulwesens obliegt es gemäß Art. 7 Abs. 1 und 5 GG, die erforderlichen Bestimmungen über die Organisation der Volksschulen zu erlassen. Dem jeweiligen Landesgesetzgeber steht dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Regelung des § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist, überschreitet die Grenzen dieses Spielraums nicht. Da der Landesgesetzgeber in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise den Schultyp der christlichen Gemeinschaftsschule einführen darf, kann es ihm nicht verwehrt sein, die Wertvorstellungen, | ||
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+ | a) Die Vorschrift des § 13 Abs. 1 Satz 3 der Volksschulordnung ist Teil der organisatorischen Ausgestaltung der christlichen Gemeinschaftsschule. Durch das Kreuz im Klassenzimmer werden die in dieser Schulform zu vermittelnden überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte und ethischen Normen den Lehrern und Schülern sinnbildlich vor Augen geführt. Bei dem Erlaß dieser Vorschrift durfte der Landesgesetzgeber der Tatsache Rechnung tragen, daß die Mehrzahl der in seinem Gebiet lebenden Staatsbürger einer christlichen Kirche angehört (vgl. BVerfGE 41, 29 [50 f., 60]). Er konnte ferner davon ausgehen, daß die Anbringung eines Kreuzes im Klassenzimmer wegen dessen Symbolcharakters für die überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte und ethischen Normen auch von einem Großteil der einer Kirche fernstehenden Personen begrüßt oder wenigstens respektiert würde. Dafür spricht nicht zuletzt, daß die Bestimmungen der Bayerischen Verfassung über die christliche Gemeinschaftsschule die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit (vgl. BVerfGE 41, 65 [67]) gefunden haben. | ||
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+ | b) Der Staat, der mit der Schulpflicht tief in die Erziehung der Kinder durch das Elternhaus eingreift, ist weitgehend auf die Akzeptanz des von ihm organisierten Schulwesens durch die Eltern angewiesen. Es ist ihm daher nicht verwehrt, die Übereinstimmung von Schule und Elternhaus in grundlegenden Wertanschauungen soweit als möglich aufrechtzuerhalten (vgl. BVerfGE 41, 29 [60]; 41, 65 [87]). Dazu kann auch die Anbringung von Kreuzen in Unterrichtsräumen beitragen, die in Bayern im übrigen einer langen Tradition entspricht, die nur in der Zeit des Nationalsozialismus auf Widerstand gestoßen ist. | ||
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+ | 4. Durch das Anbringen von Kreuzen in Unterrichtsräumen wird die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität nicht verletzt. Unter der Geltung des Grundgesetzes darf das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht als eine Verpflichtung des Staates zur Indifferenz oder zum Laizismus verstanden werden. Durch die Verweisung auf die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung in Art. 140 GG ist das [[jura: | ||
+ | In den Entscheidungen über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit christlicher Gemeinschaftsschulen hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem [[jura: | ||
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+ | Die von der Senatsmehrheit für verfassungswidrig gehaltene Regelung des § 13 Abs. 1 Satz 3 der bayerischen Schulordnung für die Volksschulen genügt allen diesen Erfordernissen: | ||
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+ | == II. == | ||
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+ | Entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit werden die Beschwerdeführer durch das Vorhandensein von Kreuzen in den Unterrichtsräumen nicht in ihrer Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) verletzt. | ||
+ | 1. Mit der Schulpflicht und der Übernahme des Volksschulwesens in seine eigene Verantwortung hat der Staat einen für die Erziehung der Jugend maßgeblichen Lebensbereich voll in seine Obhut genommen. Das hat zur Folge, daß er hier Raum geben muß für die Entfaltung der Freiheitsrechte. Diese können zwar im Hinblick auf den legitimen Zweck der Einrichtung - hier der Schule - eingeschränkt, | ||
+ | Die Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG wird, was von der Senatsmehrheit überhaupt nicht in den Blick genommen wird, durch die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung in Art. 4 Abs. 2 GG noch verstärkt und hervorgehoben (vgl. BVerfGE 24, 236 [245 f.]). Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sichern gemeinsam dem Einzelnen einen Raum für die aktive Betätigung seiner Glaubensüberzeugung. Ist danach ein freiwilliges, | ||
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+ | 2. In die Religionsfreiheit der Beschwerdeführer wird damit nicht eingegriffen. | ||
+ | a) Die Beschwerdeführer berufen sich nicht auf die Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG. Sie machen auch keine Verletzung ihrer aus Art. 4 Abs. 1 GG folgenden positiven Bekenntnisfreiheit geltend, sondern rügen allein eine Verletzung ihrer - ebenfalls durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützten - negativen Religionsfreiheit. Denn sie verlangen nicht die Anbringung eines Symbols ihrer eigenen Weltanschauung im Klassenzimmer neben dem Kreuz oder an dessen Stelle, sondern allein die Entfernung von Kruzifixen, die sie als Symbole einer von ihnen nicht geteilten religiösen Überzeugung betrachten und nicht dulden wollen. In dem Beschluß vom 5. November 1991 (BVerfGE 85, 94), mit dem der Antrag der Beschwerdeführer auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen worden war, hatte der Senat die verfassungsrechtliche Frage - treffender als jetzt in der Hauptsacheentscheidung - wie folgt formuliert: "ob und unter welchen Umständen die Verwendung religiöser Symbole in einer Schule die negative Religionsfreiheit berührt und inwieweit sie von der Minderheit hinzunehmen ist, weil sie der positiven Religionsfreiheit der Mehrheit Rechnung tragen soll" (BVerfG, a.a.O., S. 96). | ||
+ | Freilich handelt es sich nicht um ein Problem des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit, sondern darum, wie im Bereich der staatlichen Pflichtschule positive und negative Religionsfreiheit der Schüler und ihrer Eltern allgemein in Übereinstimmung gebracht werden können. Dieses im Bereich des Schulwesens unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit zu lösen, obliegt dem demokratischen Landesgesetzgeber, | ||
+ | b) Diesen Grundsätzen ist der bayerische Landesgesetzgeber mit dem Erlaß des § 13 Abs. 1 Satz 3 der Volksschulordnung gerecht geworden. Die gebotene Abwägung mit den Belangen von Nicht- und Andersgläubigen läßt einen Verfassungsverstoß nicht erkennen. | ||
+ | aa) Bei der Einschätzung und Bewertung dieser Belange kann man nicht, wie es die Senatsmehrheit tut, generell die christlich-theologische Auffassung von Bedeutung und Sinngehalt des Kreuzessymbols zugrunde legen. Entscheidend ist vielmehr, welche Wirkung der Anblick des Kreuzes bei den einzelnen Schülern entfaltet, insbesondere welche Empfindungen der Anblick des Kreuzes bei Andersdenkenden auslösen kann (vgl. dazu auch BVerfGE 35, 366 [375 f.]). Es mag sein, daß in einem Schüler christlichen Glaubens beim Anblick des Kreuzes im Klassenzimmer teilweise diejenigen Vorstellungen erweckt werden, die von der Senatsmehrheit als Sinngehalt des Kreuzes (unter C.II.2.b) der Gründe) geschildert werden. Für den nichtgläubigen Schüler hingegen kann das nicht angenommen werden. Aus seiner Sicht kann das Kreuz im Klassenzimmer nicht die Bedeutung eines Symbols für christliche Glaubensinhalte haben, sondern nur die eines Sinnbilds für die Zielsetzung der christlichen Gemeinschaftsschule, | ||
+ | bb) Angesichts dieses Sinngehalts, | ||
+ | Die psychische Beeinträchtigung und mentale Belastung, die nichtchristliche Schüler durch die zwangsläufige Wahrnehmung des Kreuzes im Unterricht zu erdulden haben, hat nur ein verhältnismäßig geringes Gewicht. Das Minimum an Zwangselementen, | ||
+ | Die Schüler werden durch das Kreuz im Klassenzimmer auch nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise (vgl. BVerfGE 41, 29 [51]) missionarisch beeinflußt. Ein unmittelbarer Einfluß auf Lehrinhalte und Erziehungsziele im Sinne einer Propagierung christlicher Glaubensinhalte geht von dem Kreuz im Klassenzimmer nicht aus. Im übrigen ist auch insoweit von den besonderen Verhältnissen in Bayern auszugehen. Der Schüler wird dort - auch außerhalb des engeren kirchlichen Bereichs - in vielen anderen Lebensbereichen tagtäglich mit dem Anblick von Kreuzen konfrontiert. Beispielhaft seien nur erwähnt die in Bayern häufig anzutreffenden Wegekreuze, die vielen Kreuze in Profanbauten (wie in Krankenhäusern und Altersheimen, | ||
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+ | == III. == | ||
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+ | Hiernach hat der bayerische Landesgesetzgeber mit dem Anbringen von Kreuzen in den Klassenzimmern von Volksschulen in zulässiger Weise von der ihm zustehenden Gestaltungsbefugnis bei der Organisation des Volksschulwesens Gebrauch gemacht, ohne die Grenzen seines Gestaltungsspielraums zu überschreiten. Die angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen begegnen in dieser Hinsicht keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. | ||
+ | Seidl, Söllner, Haas | ||
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+ | Abweichende Meinung der Richterin Haas zum Beschluß des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 - | ||
+ | Ich teile darüber hinaus auch weder die Begründung der Senatsmehrheit zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde noch ihre Ausführungen zum Anordnungsgrund. | ||
+ | 1. Soweit Zweifel an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde etwa deshalb bestehen könnten, weil möglicherweise zwischenzeitlich die Beschwer der Beschwerdeführer weggefallen ist, etwa durch einen Schulwechsel der Beschwerdeführer zu 3) bis 5) oder durch Abhängen der noch verbliebenen Kruzifixe in den Unterrichtsräumen - nur darauf bezog sich der Antrag der Beschwerdeführer im einstweiligen Rechtsschutzverfahren -, mag das dahingestellt bleiben. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kann hier jedoch nicht aus denselben Gründen wie beim Wegfall der Beschwer im Hauptsacheverfahren (vgl. BVerfGE 41, 29 [43]) bejaht werden. Denn die Annahme eines fortdauernden Feststellungsinteresses berücksichtigt nicht hinreichend die Besonderheiten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, | ||
+ | 2. Die angefochtene Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist auch insoweit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, | ||
+ | Davon ist auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausgegangen. Bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes hebt der Gerichtshof unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes zutreffend darauf ab, ob den Beschwerdeführern bei Nichterlaß einer einstweiligen Anordnung ein unzumutbarer und irreparabler Nachteil entstünde. | ||
+ | Im Rahmen dieser Nachteilsprüfung hat er - verfassungsrechtlich unbedenklich - die Dringlichkeit und die Bedeutung des Anspruchs geprüft. Deshalb erscheint es mehr als zweifelhaft, | ||
+ | Angesichts seiner Beurteilung des Nachteils als minderschwer brauchte der Verwaltungsgerichtshof auch nicht weiter zu prüfen, ob der Erlaß einer einstweiligen Anordnung etwa deshalb notwendig war, weil die Beschwerdeführer vor den sie treffenden unzumutbaren und irreparablen Nachteilen anders nicht hätten bewahrt werden können (vgl. BVerfGE 46, 166 [179 f.]). Die Annahme des Gerichts, daß vor dem Hintergrund der Kompromißbereitschaft der Verwaltung auch in Zukunft außergerichtliche Kompromißlösungen wie die gegenwärtig bestehende erreichbar seien, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. | ||
+ | Der Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebot es dem Gerichtshof auch nicht, Möglichkeiten einer vergleichsweisen Zwischenlösung " | ||
+ | Haas | ||
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